Sievert Karsten Frank

Leseprobe 1

Aus seinem Dorf hatte er schon als Kind fort müssen, weil es dieses Dorf nach dem Überfall der Soldaten nicht mehr gab.
Sie waren in den Wald gelaufen. " Versteckt euch" hatte man ihnen zugerufen und die Kinder waren bis zu der alten Burg oben hinter dem Sumpf gelaufen. Hinter dem grasbedeckten steilen Wall hatten die Alten schon früher ein paar Verschläge gebaut, unter denen man ab und an Schutz suchen konnte, wenn man das Vieh im Wald weidete. Jetzt saßen die Kinder unter den schütteren Schindeln und froren. Anselm erinnerte sich an seine große Enttäuschung. Ja, er hatte auf Vater und Mutter geschimpft. Die Eltern waren nicht gekommen, wie sie versprochen hatten und niemand hatte ihnen etwas zu essen gebracht. Die Kleinen weinten die ganze Nacht, bis die Großen es ihnen verbaten, weil sie befürchteten, von den Soldaten entdeckt zu werden. Am nächsten Tag waren sie in aller Frühe gemeinsam wieder in das Tal hinabgestiegen. Die Glocke der Kirche hatte in der Frühe noch nicht gerufen, wie sie es gewohnt gewesen waren. Ihr Klang hatte sonst doch immer jeden neuen Tag angeläutet. Dieser Ton hatte unverrückbar zu ihrem Leben gehört.
Die Kinder blieben ängstlich am Waldrand oberhalb des Dorfes stehen. Es lag etwas Bedrohliches in der Luft. Unter der großen Eiche am Wegekreuz rochen sie den scharfen Geruch wie von einem Feuer, das noch nicht ganz erloschen war. Es roch brenzlig und schmutzig. Als ob jemand seinen Unrat und Abfall in das Feuer geworfen habe…
Vier Jungen hatten sich heimlich durch die Hecken und hinter den Katen angeschlichen. Sie wollten sehen, ob die Soldaten wieder abgezogen waren. Am Wald hörte man später einen scharfen Knall. Die Kinder schauderte. Sie kannten als enge Nachbarn des Waldes die Stimme einer Flinte. Oft genug hatte der Jäger auch in der Nähe des Dorfes einen Wolf erlegt oder dem Fuchs aufgelauert. Jetzt kamen drei der Knaben zurück. Sie ergriffen die Hände der kleineren Kinder und zogen mit ihnen wieder in den Wald. Die anderen folgten freiwillig. Die Luft atmete Unheil. Schließlich wurde es erforderlich, dass die großen Kinder die kleinen trugen, als diese wimmerten und sich weigerten, weiterzugehen. Aber als sie über die Kuppe des Berges in das Nachbartal gelangt waren, grüßte sie die Mittagsglocke vom Kirchturm mit leisem Rufen durch die Bäume. Und nach weiteren mühsamen zwei Stunden, die mit heftigem Weinen und Zetern und mit kneifendem Hunger angefüllt waren, erreichten sie ein Dorf, das nach ihrer Meinung irgendwo in der Mitte des Waldes lag. Die kleineren Kinder wurden von den Frauen abgesondert und versorgt, die größeren Kinder saßen beim Pastor in der Kirche und berichteten von dem, was sie gesehen hatten, während der Diener Gottes ihnen mit einem großen blanken Messer würzige große Scheiben von einem dunklen Laib abtrennte.
Anselm hatte ja das Drohende gespürt, als die drei Buben zurückkamen. Sie alle hatten etwas gewusst und hatten doch nicht zu fragen gewagt, um das Unmögliche nicht möglich zu machen. … D er Sommer war lang und trocken. Die Soldaten brannten und mordeten wohl im Land umher, Rauchsignale standen ab und an über den Dörfern in der Ebene, aber hier hinauf, in dieses abgelegene Tal kamen sie nicht. Von den Höhen herab hatten die Männer in den Tälern zwar manches Mal nachts einen Feuerschein gesehen. Der flog hierhin und dorthin. Aber die Alarmkette der Dörfler musste nicht tätig werden. Allerdings saß auch jeden Tag jemand droben mit einer Flinte, der das Dorf hätte warnen können.
Als die Tage kürzer wurden, schlich sich Anselm eines Tages voller Sehnsucht aus dem Haus. Er hatte vom Vorabend noch einen Teil Brot im Sack und die Früchte der Himbeeren und Brombeeren, der Blaubeeren und das Wasser des Baches sollten ihm genügen. So hatte er es sich zurechtgelegt. Am späten Nachmittag trat er vorsichtig aus dem Wald über seinem Dorf. Aber dort, wo sie früher gespielt hatten, starrten nur schwarze, angerissene, teilweise zerbrochene Mauern ihn an, Fensterhöhlen ohne Scheiben und Fensterkreuze. Die Pforten waren zu Löchern ohne Haustüren verkommen, die brandigen Mauern hatten die bergenden Dächer verloren. Das Unkraut und besonders die Nesseln standen hoch, der Kirchturm fehlte auf dem dicken Stumpf mit den groben Steinen, von denen der angeschwärzte, ehemals weiße Putz in großen Flecken abgeblättert war und die nackten Bruchsteine freigegeben hatte. Das Dach der Kirche war eingestürzt und der Friedhof, auf dem sie im letzten Sommer die Ahne gebettet hatten, war zertreten, die Steine und Kreuze umgeworfen worden. Alles war wüst.
Er fand das Haus der Eltern nicht mehr. Ein paar Mauern standen, wo er gewohnt hatte, aber das war nicht das Haus. Er musste sich geirrt haben. Das Haus seiner Eltern konnte doch nicht einfach völlig eingestürzt und alle Tiere verschwunden sein.